Nach der Verliebtheit tritt Ernüchterung ein
Reinhard Haller weiß: „Wenn die euphorische Phase des Verliebtseins, des Zusammenkommens und des gemeinsamen Aufbruchs zu Ende geht, wenn eine gewissen Ernüchterung eintritt und der Alltag einkehrt, beginnt zwangsläufig auch die Zeit der Kränkungen.“ Gegenseitige Hochschätzung und Achtsamkeit sinken, Lieblosigkeiten werden im Stress häufiger, das Fühlen ist nicht mehr so einheitlich. Man lernt andere Seiten des Partners kennen, nicht nur positive. Manche sind neu, andere unvertraut, einige sogar erschreckend, viele kränkend. Enttäuschungen sind unausweichlich. Im Kontext der Kränkungen betrachtet, achtet man nicht mehr sorgfältig genug auf eigenes Kränkverhalten und die Kränkbarkeit des Partners. Prof. Dr. med. Reinhard Haller war als Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe über viele Jahre Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik. Heute führt er eine fachärztliche Praxis in Feldkirch (Österreich).
Manchmal wird Ehe tatsächlich zur Hölle
Man geht mit dessen Kränkungsgrenze nicht mehr so sensibel um und hält das eigene Verhalten auch im kritischen Bereich für zumutbar. Reinhard Haller erläutert: „Erst im Laufe des Zusammenlebens lernt man verschiedene sensible Stellen des Partners und damit auch einen neuen, zusätzlichen Aspekt seiner Persönlichkeit kennen. Das ist oft eine schmerzhafte Erfahrung.“ In länger dauernden Partnerschaften werden Kränkungen manchmal systematisch angewendet.
Das ist besonders dann der Fall, wenn beide Teile extrem empfindlich und streit- und rachsüchtig sind. Die Ehe oder Lebensgemeinschaft wird somit tatsächlich zur Hölle. Reinhard Haller ergänzt: „Viel häufiger aber sind Konstellationen, bei denen ein Partner den Part des Kränkenden mit immer größerer Dominanz übernimmt, während der andere wenig Widerstand leistet oder leisten kann, sich mit der Rolle des Opfers abfindet und zwangsläufig in eine chronische Kränkungsreaktion oder Verbitterung verfällt.“ Dies entspricht einer sadomasochistischen Kollusion.
Narzisstische Menschen inszenieren ihre Gekränktheit
Die Handhabung von Kränkungen ist deshalb immer ein wesentlicher Teil des partnerschaftlichen Machtkampfs. Reinhard Haller stellt fest: „Entscheidend dabei ist, dass der sadistische Kränker seine Impulse rücksichtslos auslebt und die Kränkungsgrenze des anderen völlig ignoriert. Der Kränkende übernimmt die Hoheit über das Kränkungsgeschehen, und zwar nicht aus Selbstschutz, sondern aus empathielosem Egoismus.“ Der gekränkte Partner hingegen stellt alles ein, nimmt zu viel Rücksicht und ist stets bedacht, keinen Anlass für Kränkungen zu liefern.
Er verhält sich zurückhaltend, angepasst, vorsichtig und ängstlich, manchmal regelrecht paranoid. Reinhard Haller erklärt: „Der der kränkende Teil oft gar nicht anspricht, was ihn gekränkt hat oder kränken könnte, ist der andere verunsichert und entwickelt geradezu fantasievolle Kränkungsängste.“ Narzisstische Personen verstehen es, ihre Gekränktheit geradezu zu inszenieren. Am allerwichtigsten ist die eigene Verletzlichkeit oder die Ungeheuerlichkeit der Verletzungen durch den anderen. Ohne jegliche Reflexion beanspruchen sie das Kränkungsprivileg für sich und bringen mit ihrer kompromisslosen Haltung den Partner in eine hilflose Position. Quelle: „Die Macht der Kränkung“ von Reinhard Haller
Von Hans Klumbies